Von der Hobelbank in die Pflege

An diesem sonnigen Nachmittag bin ich mit Robin Sander verabredet. Robin Sander ist pünktlich und sommerlich gekleidet. Es ist sein erster Urlaubstag, was seine gute Laune noch befeuert. Noch bis Juli ist er für drei Monate im Praktikum des ambulanten Dienstes. Außerdem hat er täglich in einer Wohngemeinschaft mit zwanzig dementen und nicht dementen Bewohnern*innen zu tun. Er ist nun im zweiten Jahr seiner Ausbildung.

Robin Sander, Pflegeschüler

Robin Sanders Vorgeschichte ist spannend. Der gelernte Tischler hat ein Studium bei der Polizei ausprobiert und war als Dachdecker tätig. Er engagierte sich im Katastrophenschutz und fuhr hauptamtlich Krankentransporte. Hier liegen die Wurzeln für seine Leidenschaft in der Pflege zu arbeiten; diese Begeisterung kann man gut nachvollziehen, wenn man hört, was er über seine frühere Tätigkeit als Tischler berichtet: „Immer wollte ich den Erfolg meiner Arbeit auch sehen, was als Tischler eigentlich gelingen sollte. Ich fühlte aber nichts. Jetzt erlebe ich im pflegerischen Alltag und vielen Gesprächen, wie es ist gebraucht zu werden. Ich spüre und erfahre Dankbarkeit, nicht immer mit Worten, manchmal nur mit einem Lächeln. Es ist wunderbar, wie wir uns als Team immer wieder auffangen und stärken. Der Spaß und das gekonnte ,Foppen‘ sind dabei nicht unerheblich. Wir können uns aufeinander verlassen und spüren, dass es anders gar nicht ginge. Wie neulich, als Erich starb. Er war uns allen ans Herz gewachsen. Es war toll, wie er mit seiner ausgeprägten Demenz umging. Wenn man Erich etwas fragte, dann lächelte er zurück und wir spürten, dass er selbst Freude hatte mit seiner immer gleichen Antwort: ,Weiß ich nicht, muss ich auch nicht mehr wissen, weil ich Demenz habe.‘“ Robin Sander erklärt mir ausführlich, wie liebevoll die Trauer und Erinnerungsarbeit nach Erichs Tod von wirklich allen auf dem Wohnbereich gelebt wurde.

Woraus er die Kraft für seine Tätigkeit zieht? „Da ist an erster Stelle meine Freundin, die vollkommen hinter mir steht. Lob und Anerkennung durch die Kolleg*innen sind aber ebenso wichtig dafür. Außerdem ist da der Fußball. Nach meiner aktiven Zeit habe ich 2014 einen Lehrgang als Schiedsrichter gemacht und pfeife seit der Zeit Spiele in der Kreisklasse. Aus diesem Hobby ziehe ich nicht nur neue Kraft, sondern lerne in Sekundenschnelle die richtigen Entscheidungen zu treffen, was in der Pflege oft unerlässlich ist. Ich muss durchschauen können, ob es sich um eine Schwalbe handelt, Aggression vorliegt oder es nur Frust ist.“ Ich bohre weiter: „Haben Sie Vorbilder als Schiri?“ Sofort legt er sich fest: „Deniz Aytekin, der den Satz rausgehauen hat: ,Der beste Schiedsrichter ist der, über den in der Sportschau nicht gesprochen wird.‘“ Robin Sander denkt einen Augenblick nach und ergänzt: „Und Pierluigi Collina, der besaß eine natürliche, unantastbare Autorität und konnte die Körpersprache der Spieler wirklich lesen. Er war bestimmt, ohne dominant zu sein. All dies ist auch in der Pflege wichtig.“ Ich biete ich ihm selbstgebackene Plätzchen an und frage wie nebenbei: „Haben Sie bei der Polizei ebenfalls etwas gelernt, was ihnen heute hilft?“ „Unbedingt! In hitzigen und schwierigen Situationen ruhig bleiben zu können, zu deeskalieren, das ist in meiner jetzigen Tätigkeit ebenso wichtig.“

„Lieber Robin Sander, ich würde gerne noch eine sehr persönliche Frage stellen, die Sie aber selbstverständlich ablehnen dürfen.“ Er stimmt wortlos zu. „Sie haben wiederholt davon gesprochen, wie wichtig für Sie die Anerkennung und Dankbarkeit sind. Hat es da vielleicht einmal eine Zeit gegeben, wo genau das fehlte?“ Sein Gesicht verzerrt sich etwas und unterstreicht so, was Robin Sander jetzt offenbart: „Ja, die fünfte bis siebte Klasse waren die Hölle. In meiner Pubertät hatte ich deutlich an Gewicht zugenommen und wurde dafür gehänselt, gemobbt. Das waren Tiefschläge. Erst nachdem ich die Klasse gewechselt habe, hörte es auf, als ich neue, richtige Freunde fand. Heute kann ich mir selbst gefallen und mein Selbstbewusstsein wird durch jede Anerkennung und jeden Dank gestärkt.“ Ich lasse Robin Sander bewusst Zeit, er denkt nach und ergänzt ein wenig bedeutungsschwer: „Vielleicht wollen viele in diesem Beruf Vorbilder im Helfen sein, weil ihnen Hilfe gefehlt hat, als sie diese selbst unbedingt brauchten. Die seelische Not kann Suizidgedanken hervorrufen und umgekehrt. Wenn das verdammte Mobbing aufhört, kann das Berge versetzen. Was man in solchen Situationen überhaupt nicht gebrauchen kann, sind dumme Sprüche wie: Alles wird gut. Die helfen niemandem, auch in der Pflege nicht!“ Ich nicke und merke an: „Jetzt haben Sie Dampf abgelassen und gleichzeitig sehr gut erklärt, was mir noch nicht klar war, um Sie besser zu verstehen. Eine allerletzte Frage bitte noch: Es kann ja nicht immer alles gut laufen, wie reagieren Sie denn nach Feierabend ab, wenn das mal so richtig nötig ist?“ Ich muss nicht lange warten, die Antwort ist knapp und überzeugend: „Rammstein!“

Text: Norbert Nientiedt
Fotos: Uwe Jesiorkowski

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